Wir Diabetiker können das meiste, was Gesunde auch können. Allerdings brauchen wir zwingend mehr Disziplin. Der Blutzucker muss regelmässig gemessen werden. Insulin muss rechtzeitig gespritzt oder Tabletten müssen genommen werden. Man muss richtig essen, sich täglich bewegen und ausreichend schlafen. Für einen Mangel an Disziplin «bezahlt» man sofort, mit schlechtem Blutzucker, schlechter Laune und schlechtem Gewissen. Mit Diabetes richtig umzugehen erfordert strenge Disziplin und oft hohe Willenskraft. Was besonders schwierig ist: Man muss die Energie dafür immer selber aufbringen und der Erfolg ist trotzdem nicht immer messbar oder spürbar.
«It’s not your fault. But it’s your responsibility.» [Es ist nicht Deine Schuld, aber Deine Verantwortung.]
Chuck Eichten (Typ 1 Diabetiker, «The book of better«)
Mangelnde Disziplin, mangelnde Willenskraft
Es ist ruckzuck passiert: ein Panettone steht auf dem Tisch in unserem Besprechungszimmer und, ohne dass ich das „aktiv entscheide“, habe ich ein Stück davon im Mund. Panettone, meine Güte. Das gehört zu meinen Soll-ich-keinesfalls-keinesfalls! -essen Süssigkeiten. Unmöglich abzuschätzen, die Kohlenhydrate sind bei mir so rasch im Blut wie Traubenzucker. Und aufhören kann ich damit auch nicht.
In Situationen verminderter Willenskraft, wie nach einem anstrengenden Arbeitstag oder bei Stress, verfallen wir stärker in Gewohnheiten.1,2 Oft in schlechte: Entscheidungsmüde verhalten wir uns eher ungesund. Auf dem Sofa rumhängen, ein Bierchen trinken, naschen, snacken und fernsehen. Diese Schwäche in Selbstkontrolle, die wir oft als mangelnde Disziplin oder mangelnde Willenskraft beschreiben, hat für uns persönlich Konsequenzen. So haben wir im Anschluss ein schlechtes Gewissen und erreichen auch Ziele nicht, die wir uns vorgenommen haben: Diätziele, Aktivitätsziele, Blutzuckerziele, etc.
Sinkt unsere Disziplin? – Führe uns in Versuchung…
In den letzten Jahrzehnten haben die Verführungen um ein Vielfaches zugenommen. So stieg die Anzahl an übergewichtigen Menschen in den USA kurz nach 1980 stark an. Haben denn vielleicht in den 80er Jahren plötzlich alle Amerikaner ihre Willenskraft und Disziplin verloren?
Nein, denn wenn man tiefer gräbt, sieht man zwei grosse Ursachen, die für den Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit verantwortlich sind. Die eine ist ansteigende Lohnungleichheit und Verschuldung. Der zweite Grund hat mit der starken Verbreitung und Werbung für hochverarbeitete Lebensmittel (junk food, fast food) zu tun. Es gab ein riesiges Wachstum von Fast Food-Ketten, einen Anstieg in Portionengrössen. Das Fast food, die Snacks und stark gesüsste Getränke gibt es überall und meist zu tiefen Preisen. Dies ist natürlich nur aufgrund billiger und leider qualitativ minderwertiger Inhaltsstoffe möglich (zusammengefasst in Loewenstein 2018).3
Somit ist Übergewicht und mangelnde Aktivität nicht nur ganz unserer fehlenden Selbstkontrolle und Disziplin zuzuschreiben. Es ist nämlich davon auszugehen, dass Nahrungsmittelhersteller, diese menschlichen Schwachstellen gezielt ausnutzen. So sind wir täglich zuviel Werbung, (zu)viel Auswahl, zuvielen Verführungen ausgesetzt.
Wie steigert man seine Willenskraft?
In der momentanen Forschung in Psychologie und Wirtschaftswissenschaften werden verschiedene Ansätze beschrieben, wie man Schwachstellen in der Selbstkontrolle angehen kann. Es werden zwei Strategien unterschieden, die selbstgesteuerten (d.h. “Was kann ich selber tun?”) und die fremdgesteuerten (d.h. “Was können andere tun, um meine Selbstkontrolle / -disziplin zu stärken?”).
Innerhalb dieser Strategie unterteilt Angela Duckworth und ihr Team von Psychologie- und Neurowissenschafts-Forschern konkrete Massnahmen, wie man seine Willenskraft steigern kann. Sie unterscheiden zwischen Massnahmen, die einerseits unsere (Lebens- oder Umwelt-) Situation anpasst, und Massnahmen, die unsere Wahrnehmungen ändern.3,4
1. Brauch weniger Disziplin!
Wir können unsere Umwelt so früh anpassen, dass Verführungen gar nicht wahrgenommen werden. Vieles fällt uns nämlich viel leichter, wenn wir uns rechtzeitig entscheiden und früh einen festen Plan haben. So nützt es mir selber sehr, eine Menüliste für eine ganze Woche zusammenzustellen, und dann dementsprechend einmal pro Woche alles einkaufen zu gehen. Diese einfache Massnahme führt zu sinnvollerer Essens-Wahl, als wenn ich abends nach einem anstrengenden Arbeitstag (müde, hungrig und entscheidungsschwach) in den Laden stürze und mir etwas fürs Abendessen auswähle.
2. Räum die Verführungen weg, aus den Augen aus dem Sinn
Passe Deine Umwelt nach dem Motto «führe mich nicht in Versuchung» an. Verführungen einfach aus dem Weg zu räumen hilft nämlich erstaunlich stark. Den Fernseher einfach in einen Schrank zu stellen, oder auch nur in eine etwas unattraktivere Ecke des Wohnzimmers macht bereits einen Unterschied im Fernsehkonsum.4 Ziemlich tolpatschige Selbstüberlistung wie es scheint, aber das kleine Mass an Reibung macht es für uns direkt weniger attraktiv. Auch umgekehrt funktioniert das: eine attraktiv gefüllte Obstschale auf dem Tisch die wir ständig sehen «verführt» uns in positiver Hinsicht.
3. Belohne Disziplin und Willenskraft sofort
Eine weitere Massnahme, die unsere Umwelt anpasst, ist das «temptation bundling». Dabei werden zwei Aktivitäten als feste Bedingungen zusammengelegt. Ein bevorzugtes (Wollen) belohnt ein eher unbeliebteres (Sollen). Ich schaue zum Beispiel eine Netflixserie oder Dokumentation nur, während ich auf dem Spinning-Bike sitze. Damit bin ich sogar ziemlich sportlich geworden. Die tägliche halbe Stunde einer Serie passt nämlich ziemlich genau, um richtig zu schwitzen und mein geplantes Tagesprogramm abzustrampeln. Und weil ich mich mittags während eines Spaziergangs oft mit einem spannenden Hörbuch belohne, kann ich «lesen» ohne auf dem Sofa rumzusitzen. Dadurch werden die Sporteinheiten und Spaziergänge unbewusst oft länger als geplant und machen natürlich auch mehr Spass.4,5
4. Erstelle Deine wenn-dann-Regeln
Anstelle einer oberflächlichen Zielsetzung, wie zum Beispiel ich sollte «mehr Sport machen», «gesund essen», ist eine klare «implementation intention» sinnvoll. Eine Implementation Intention ist ein glasklarer Vorsatz zur Umsetzung einer Aktivität. Sie vernetzt einen erwarteten Reiz (wenn das passiert…) direkt mit einer erwünschten Handlung (…dann werde ich dies tun).6,7 Eine solche Planung zieht auch mögliche Hindernisse mit ein, denn es wird früh überlegt, was schiefgehen könnte und wie man dann damit umgeht. Es resultiert eine «wenn-dann Planung», die eigentlich einem klassischen Vorsatz entspricht.
Solche klaren wenn-dann-Vorsätze sehen einen konkreten Ablauf von Aktivitäten vor. Somit sind sie viel stärker als ein unspezifisches Ziel «ich will das erreichen», und brauchen gleichzeitig fast keine Willenskraft. Wenn die Situation X eintritt, dann werde ich Y tun, um mein Ziel zu erreichen. Ist so eine «implementention intention» einmal durchdacht und festgelegt, werden Verführungs- oder Entscheidungssituationen automatisiert und sind sehr einfach durchzuziehen. Es ist nicht viel Selbstkontrolle nötig ist, da der Plan steht. Wenn ich ein Hypo (Unterzucker) habe, dann esse ich drei Stück Traubenzucker, um den Blutzucker zu normalisieren.
Und auf Süssigkeiten angewandt habe ich oft ein Glas mit trockenen Beeren, kleinen Schokostückchen und einigen Nüssen dabei. So habe ich in Zeiten, in denen meine Arbeitskollegen von einer Süssigkeit naschen sofort eine Alternative, die mir erlaubt mein übergeordnetes Ziel (KEIN Panettone, guter Blutzucker) einzuhalten.
Literaturangaben:
1. Neal DT, Wood W, Drolet A. How do people adhere to goals when willpower is low? The profits (and pitfalls) of strong habits. J Pers Soc Psychol. 2013;104(6):959-975. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23730907
2. Vohs KD, Baumeister RF, Ciarocco NJ. Self-regulation and self-presentation: regulatory resource depletion impairs impression management and effortful self-presentation depletes regulatory resources. J Pers Soc Psychol. 2005;88(4):632-657. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15796665
3. Loewenstein G. Self-Control and Its Discontents: A Commentary on Duckworth, Milkman, and Laibson. Psychol Sci Public Interest. 2018;19(3):95-101. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30760174
4. Duckworth AL, Milkman KL, Laibson D. Beyond Willpower: Strategies for Reducing Failures of Self-Control. Psychol Sci Public Interest. 2018;19(3):102-129. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30760176
5. Milkman KL, Minson JA, Volpp KG. Holding the Hunger Games Hostage at the Gym: An Evaluation of Temptation Bundling. Manage Sci. 2014;60(2):283-299. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25843979
6. Sheeran P, Webb TL, Gollwitzer PM. The interplay between goal intentions and implementation intentions. Pers Soc Psychol Bull. 2005;31(1):87-98. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15574664
7. Schweiger Gallo I, Gollwitzer PM. Implementation intentions: a look back at fifteen years of progress. Psicothema. 2007;19(1):37-42. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17295981