Hypoglykämie («Hypo») ist der medizinische Fachbegriff für einen zu tiefen Blutzucker, einer Unterzuckerung. Bei tiefen Werten unter 3.9mmol/l [unter 70 mg/dl] wird die Gehirnfunktion eingeschränkt, weil das Gehirn auf Zucker (Glukose) als Energiequelle angewiesen ist. Die Denkaktivität wird verlangsamt und es wird schwierig, Entscheidungen zu treffen. Der Körper reagiert darauf mit Stresssymptomen wie Schwitzen, Herzrasen und Zittern. Eine schwere Unterzuckerung kann lebensbedrohlich sein.
Leichte Hypos sind manchmal schwierig festzustellen, sie fühlen sich etwa so an, als hätte man ein halbes Glas Weisswein auf nüchternen Magen getrunken. Man wird etwas schummrig, plaudert vielleicht mehr und ist nicht mehr so ganz bei der Sache…. Wie aber soll man bei Hypoglykämien reagieren?
Das Gehirn braucht Zucker
Das Gehirn ist auf Glukose als Hauptenergielieferant angewiesen. Es kann nicht richtig funktionieren, wenn zu wenig davon da ist. Eine Hypoglykämie stellt so eine Bedrohung für das Gehirn und damit natürlich für den ganzen Körper dar. Man muss sich bewusst sein, dass das Gehirn, dieses kleine Organ, das beim Menschen etwa 2% des Körpergewichtes ausmacht, 20% des gesamten Sauerstoffs des Körpers und sogar 25% der gesamten Glukose als Energie braucht!1 Da das Gehirn aber fast keine Speichermöglichkeit für Glukose hat, ist es auf eine kontinuierliche Versorgung aus dem Blut angewiesen.
Haben nicht-Diabetiker*innen auch Hypoglykämien?
Normalerweise gelingt es dem menschlichen Körper ausserordentlich gut, den Fluss an Zucker zum Gehirn mittels verschiedener Hormone zu regulieren: er lässt beim gesunden nicht-Diabetiker keine oder sehr selten Hypoglykämien zu.2 Sportler mögen dem Phänomen möglicherweise als “Hungerast” während eines Trainings begegnet sein. Beim Diabetiker hingegen, vor allem Typ 1 sind diese Hormon-Regulatoren nicht mehr ganz funktional. Ausserdem wird therapeutisch Insulin zugeführt und dieses ist – wie jeder Diabetiker weiss – ruckzuck überdosiert.
Wie häufig sind Hypos?
Es wird beschrieben, dass der „normale“ Typ 1 Diabetiker etwa zwei nicht-gravierende, symptomatische Hypos pro Woche hat.3,4,5 Auf alle Typ 1 Diabetiker kommen im Schnitt etwa 0.35 schwere, potentiell lebensbedrohliche Episoden pro Jahr.6 Das Diabetikergehirn wird also über Jahre hinweg vielen tausend Hypos ausgesetzt. Offenbar kann es sich teilweise daran anpassen.7 Bei häufigen Hypos kann sich jedoch eine Unfähigkeit einstellen, diese wahrzunehmen (die sogenannte verminderte Hypoglykämie-Wahrnehmung). Dies kann sehr gefährlich sein, da solche Patienten oft in schwere Unterzuckerungen fallen.6
Bei langanhaltenden oder schweren Hypoglykämien können Gehirnzellen absterben. Allerdings kann bereits eine nicht so schwere Unterzuckerung gefährlich sein und zu Unfällen führen, da die Reaktionsfähigkeit verlangsamt ist.
Ein Hypo – endlich kann ich Süssigkeiten fressen!!?
Eine leichte Unterzuckerung führt zu einer Umverteilung des Blutflusses im Gehirn und zur Aktivierung von Netzwerken, die für die Appetit-Antwort zuständig sind. Dies führt zu einer Verhaltensanpassung, haha, Fresslust!.1,8 Kein Wunder also, dass man bei Hypoglykämien zum Fressmonster wird.
Wie viele Diabetiker*innen habe ich jahrelang Süssigkeiten, Chips und Cracker zur Hypo-Prophylaxe oder -Bekämpfung eingesetzt. Manchmal habe ich mich sogar fast gefreut, ein Hypo zu haben und somit Süssigkeiten essen «zu müssen». Dies ist mittlerweile aus meiner Sicht wohl einer der grössten Fehler, die ein Diabetiker machen kann: seine Hypos mit Sachen, die man sonst nicht essen soll, zu korrigieren.9
Erstens klappt das sehr schlecht, denn in einem starken Hypo funktioniert die Denkleistung nicht richtig. Die Kontrolle darüber, wieviel man isst, ist ziemlich ausgeschaltet. Die vom Körper ausgeschütteten Stresshormone schalten auf Autopilot, führen zu Fressmonster-Attacken. Und zweitens sind viele Süssigkeiten auch überhaupt nicht dafür geeignet, ein Hypo rasch zu korrigieren. Gerade wenn viel Fett enthalten ist (z.B. Schokolade), gehen die Kohlenhydrate zu langsam ins Blut. Meist hat man zudem in einem Hypo die Neigung, solange zu essen, bis die Hypo-Symptome verschwunden sind, was dann natürlich viel zu viel ist und zu einem nachfolgenden Blutzucker-Hoch führt.
Der Körper reagiert auf jedes Hypo
Der Körper reagiert bei zu niedrigem Blutzuckerspiegel mit einer Serie von Gegenregulationen: die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin wie auch Cortisol erhöhen als Stresshormone den Blutzucker. Im Muskel und in der Leber gespeicherter Zucker (Glykogen) wird in verfügbaren Zucker (Glukose) abgebaut, und die Glukoneogenese (Aufbau von Glukose) wird durch das Hormon Glukagon angekurbelt. Ein stärkeres Hypo, auch wenn richtig korrigiert, kann einem also die nächsten 12-24 Stunden das Leben so richtig schwer machen, da es den Blutzucker längerfristig durcheinanderwürfelt.
Fasse einen Hypo-Korrektur-Vorsatz, halte Dich daran!
Mein Hypo-Vorsatz ist seit mehreren Jahren gesetzt: Hypos werden NUR mit Traubenzucker korrigiert. Ich esse auch nicht Traubenzucker, bis die Symptome verschwunden sind (ja, da wird ruckzuck eine ganze Stange Traubenzucker vernichtet), sondern eine genaue Anzahl von Traubenzuckerstücken: bei mir erhöht 1 Stück Traubenzucker (3.3g) den Blutzucker um 0.6mmol/l [11mg/dl]. Da ich ein Hypo als Blutzucker unter 3.8mmol/l [68mg/dl] definiere und auch spüre (oder früher spüre, wenn mein Blutzucker in diese Richtung runtersaust), brauche ich 3 Stück Traubenzucker (10g) um von 3.8 auf 5.8mmol/l [104mg/dl] – in meinen Normalbereich – zu kommen. Allenfalls muss ich natürlich noch verbleibendes Restinsulin berücksichtigen, aber eine ganze Stange Traubenzucker oder ein halber Liter Cola oder Orangensaft (haben übrigens beide gleichviele Kohlenhydrate!), Nutella-Brote oder Kekse, Kuchen & Torten sind definitiv fehl am Platz.
Irgendwo keinen Traubenzucker dabei zu haben, ist KEINE Option.
Wer profitiert noch von weniger Hypos?
Mich können zu tiefe Blutzuckerwerte ungeduldig und ungerecht machen. Diese emotionalen Ausschweifungen sind mir selber oft in dem Moment nicht bewusst. Allerdings leide ich dann später darunter, wenn ich merke, dass ich wieder unbewusst meine Launen an meine Mitarbeiter, Freunde oder meinen Partner weitergegeben habe, die nun wirklich nichts dafür können…
Informiere Deine Freunde und Familie, wie sie bei einem Hypo reagieren sollen
Möchtest Du lieber Cola oder Orangensaft? Oder Oreos? Ach nee, Du bist ja Diabetikerin, also Cola light? Ich stand mit einer Freundin vor dem Selecta-Automaten. Ich im krassen Hypo, ohne was dabei, sie in der besten Absicht, mir zu helfen.
Liebe Diabetiker-Freunde, in einem starken Hypo funktioniert die Denkleistung nicht richtig, man kann nicht richtig entscheiden. Fragt also nie einen hypoglykämischen Diabetiker, was er möchte, lasst ihn auch nicht entscheiden. Sorgt dafür, dass er mindestens 10-20g rasch verfügbare Kohlenhydrate zu sich nimmt. Nehmt ihn aus der Gefahrenzone, bis der Blutzucker wieder normal ist (siehe Checkliste Information Freunde & Familie).
Oft wissen unsere Freunde nicht genau, was sie tun sollen. Gewisse Diabetiker*innen (jaja, ich auch) werden auch störrisch, wenn sie gefragt werden, ob sie vielleicht ein Hypo hätten. Bei mir gilt aber die Regel, dass wenn mich jemand fragt oder wenn ich «glaube ich könnte ein Hypo haben», muss ich Blutzucker messen. Früh bemerkt und richtig korrigiert sind Hypos nämlich kein grosses Drama!
Literaturangaben:
1. Rooijackers HM, Wiegers EC, Tack CJ, van der Graaf M, de Galan BE. Brain glucose metabolism during hypoglycemia in type 1 diabetes: insights from functional and metabolic neuroimaging studies. Cell Mol Life Sci. 2016;73(4):705-722. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26521082
2. Kittah NE, Vella A. MANAGEMENT OF ENDOCRINE DISEASE: Pathogenesis and management of hypoglycemia. Eur J Endocrinol. 2017;177(1):R37-R47. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28381450
3. Frier BM, Jensen MM, Chubb BD. Hypoglycaemia in adults with insulin-treated diabetes in the UK: self-reported frequency and effects. Diabet Med. 2016;33(8):1125-1132. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/26248501
4. Ostenson CG, Geelhoed-Duijvestijn P, Lahtela J, Weitgasser R, Markert Jensen M, Pedersen-Bjergaard U. Self-reported non-severe hypoglycaemic events in Europe. Diabet Med. 2014;31(1):92-101. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23796113
5. Weitgasser R, Lopes S. Self-reported frequency and impact of hypoglycaemic events in insulin-treated diabetic patients in Austria. Wien Klin Wochenschr. 2015;127(1-2):36-44. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25421366
6. Pedersen-Bjergaard U, Pramming S, Heller SR, et al. Severe hypoglycaemia in 1076 adult patients with type 1 diabetes: influence of risk markers and selection. Diabetes Metab Res Rev. 2004;20(6):479-486. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15386817
7. Terpstra M, Moheet A, Kumar A, Eberly LE, Seaquist E, Oz G. Changes in human brain glutamate concentration during hypoglycemia: insights into cerebral adaptations in hypoglycemia-associated autonomic failure in type 1 diabetes. J Cereb Blood Flow Metab. 2014;34(5):876-882. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24549182
8. Dunn JT, Cranston I, Marsden PK, Amiel SA, Reed LJ. Attenuation of amydgala and frontal cortical responses to low blood glucose concentration in asymptomatic hypoglycemia in type 1 diabetes: a new player in hypoglycemia unawareness? Diabetes. 2007;56(11):2766-2773. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17660265
9. Merwin RM, Moskovich AA, Dmitrieva NO, et al. Disinhibited eating and weight-related insulin mismanagement among individuals with type 1 diabetes. Appetite. 2014;81:123-130. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/24882448