Nichts ist einfach: Man kann oft nicht essen, was man möchte und auch nicht dann, wenn man will. Kohlenhydrate machen aber keinen Diabetes.
„Am besten ist Dein Blutzucker, wenn Du nichts isst“, stellte mein Mann letztens fest. Ich hatte da gerade wieder mal ein Basalraten-Troubleshooting hinter mir und meine Insulinpumpe war sehr gut eingestellt. Aber nichts zu essen ist natürlich kein Konzept, und das wollte mein Mann auch nicht mit der Bemerkung erreichen. Ich esse unglaublich gern und auch gerne viel. Glücklicherweise liebe ich es auch zu kochen! Mein Mann hilft gerne mit, und somit ist bei uns immer für gutes Essen gesorgt.
Die «richtige» Ernährung für Diabetiker
Die richtige Ernährung ist eine der wichtigsten Säulen der Diabetes-Behandlung. Die Diabetesgesellschaften und auch Diabetologen empfehlen nach wie vor, dass man als Typ 1 und als Typ 2 Diabetiker mehr oder weniger alles essen kann: man soll sich «ausgewogen und vielseitig» ernähren.1,2 Eine solche Empfehlung ist somit natürlich unglaublich unspezifisch und versucht mehrere Ziele zu verfolgen. Sie soll Blutzucker- und Blutfett-Werte sowie Blutdruck tief zu halten und allenfalls das Gewicht zu senken. Eine «eierlegende Wollmilchsau», sozusagen. Wie soll das gehen?
Richtig essen ist aber nicht ganz einfach…
Nichts ist einfach, wenn es ums Essen geht… Auch die schnellwirkenden Insuline schaffen es nicht, das perfekte System einer (normal funktionierenden) Bauchspeicheldrüse zu imitieren. Bis injiziertes Insulin aus der Unterhaut im Blut angekommen ist und seine Wirkung beginnen kann, dauert es eine Weile. Meist ist etwa mit 20 Minuten zu rechnen. Die Wirkung hält dann in abnehmendem Masse für etwa 3 Stunden an.3 Auch kommt es auf die Art des Insulins, die Injektionsstelle und die Tageszeit an. Meist lohnt es sich, den Insulinbolus, der die Kohlenhydrate der Speisen abdecken soll, etwa eine halbe Stunde vor dem Essen zu spritzen. (Bitte mit dem zuständigen Diabetologen absprechen!). Das heisst aber: der Diabetiker muss genau wissen, was er essen wird und wieviel. Auch muss er sicher sein, dass das Essen dann auch wirklich vorhanden und fertig zum Verzehr ist. Gerade auf Besuch oder im Restaurant ist das vorher-Spritzen relativ riskant. Schon oft habe ich dann den ganzen Brotkorb leerfressen müssen, um ein Hypo zu vermeiden, wenn der Koch länger gebraucht hat, um den Hauptgang auf den Tisch zu bringen.
It’s complicated!
Meiner Erfahrung nach trifft eher die Aussage zu, dass man als Diabetiker oft nicht das essen kann, was man möchte und auch nicht dann, wenn man will. Auch gibt es Lebensmittel, die man als Diabetiker auf keinen Fall essen sollte.
Viele Diabetiker – und auch nicht-Diabetiker – denken aber, dass vor allem Kohlenhydrate schlecht seien und versuchen diese zu meiden. Dies ist aber ein Denkfehler: Kohlenhydrate bestehen zwar aus Zuckermolekülen sind nicht daran schuld, dass wir Diabetiker sind. Eine nicht richtig funktionierende Bauchspeicheldrüse (Insulinmangel beim Typ 1) oder Insulinresistenz, oft mit und durch Übergewicht, Fettleibigkeit und Bewegungsmangel (beim Typ 2) sind die Übeltäter.
Keine Kohlenhydrate – keine Option
In der Annahme, ich würde meinen Blutzucker verbessern indem ich Kohlenhydrate mied, habe ich jahrelang einen Denkfehler gemacht. Lange hatte ich versucht, fast alle Kohlenhydrate von meinem Speiseplan zu streichen und auf unter 20-30g pro Mahlzeit zu reduzieren. Ich habe fast kein Brot mehr gegessen, keine Pasta, keine Kartoffeln. Die fehlenden Kohlenhydrate habe ich im Rahmen der «low-carb» Ernährung durch Fette und vor allem tierisches Eiweiss ersetzt.
Ich gehörte glücklicherweise nie zu den übergewichtigen Diabetikern, aber merkte tatsächlich jedes Kilo um die Hüften an meiner Insulinmenge. Ich musste auch aktiv auf mein Gewicht achten, gerade die Käse- und Fleisch-reiche Kost, ergänzt mit vielen weiteren Fetten wie Butter, Joghurt, ausreichend Olivenöl etc., erlaubte mir nicht, soviel zu essen, wie ich eigentlich wollte. Ausserdem war ich oft sehr müde, mir fehlte die Energie. Mir fehlte auch das gute Essen, die Kartoffeln, ab und zu Pasta, ein gutes Vollkornbrot….
Kohlenhydrate sind DIE Energielieferanten
Seit mehreren Jahren esse ich wieder Kohlenhydrate in Hülle und Fülle: Brot, Reis, Früchten, Kartoffeln, etc. (mehr dazu später). Energie satt!
Bei den Kohlenhydraten ziehe ich natürlich nach wie vor diejenigen vor, die den Blutzuckerspiegel eher langsam ansteigen lassen. So hat das gespritzte Insulin besser Zeit zu wirken, es kommt nicht zu den hohen postprandialen «Spikes». Der Anstieg nach dem Essen erfolgt nicht in einer Spitze, sondern flacher. Ich wähle, wenn möglich die Varianten mit möglichst tiefen glykämischen Index aus. Der Glykämische Index (GI) beschreibt als Konzept ein Mass dafür, wie rasch der Blutzuckerspiegel nach Verzehr des Lebensmittels ansteigt. Die blutzuckersteigernde Wirkung von Traubenzucker gilt als Referenzwert (100).4,5 Das Konzept ist nicht unumstritten, hilft aber im Grundsatz Lebensmittel zu wählen, die einen eher günstigem, langsamen Blutzuckeranstieg befördern.
Langsamer Blutzuckeranstieg ist optimal
Diabetiker wissen meist bereits sehr wohl, welche Lebensmittel für den Blutzuckeranstieg besser sind. Als Faustregel gilt immer, so Vollkorn wie möglich, so wenig verarbeitet wie möglich. Die Lebensmittel mit tiefem glykämischen Index (d.h. bei denen die Kohlenhydrate langsam ins Blut gehen) sind meist reich an Nahrungsfasern (Ballaststoffen). Somit erhöhen sie generell die Qualität des Lebensmittels und machen länger satt.
Achtung: verarbeitete Lebensmittel: gepufft, gemahlen, gepanscht
Meist haben die verarbeiteten Varianten der Lebensmittel einen höheren glykämischen Index. So hat Haferschrot (Korn nur leicht gequetscht oder geschnitten) einen eher tiefen GI von 40-50, ist also ideal für Porridge. Ein Fertig-Hafermehl für Porridge hat aber meist einen GI von 80, also sehr viel höher durch die Verarbeitung. Ein weiteres Beispiel ist Vollkorn Sauerteigbrot oder ein Roggenschrotbrot mit einem GI von etwa 40. Im Gegensatz dazu hat ein Weissmehl-Baguette einen GI von 90. Das geht in Traubenzucker-Tempo ins Blut! Die Verarbeitung der Lebensmittel erhöht oft die Oberfläche (durch puffen, mahlen) und entfernt die Ballaststoffe wie die Getreidehülle, so dass die Kohlenhydrate im Verdauungssystem viel einfacher abgespalten werden und somit viel rascher ins Blut gehen. Kommt das halbe Korn nur durch die Zähne gut gequetscht im Darmtrakt an, braucht es viel länger, um die Kohlenhydrate freizugeben. Dies führt zu einem langsameren Anstieg des Blutzuckers und unter dem Strich zu einem tieferen Langzeitwert, gemessen als HbA1c.6
Fazit: keine Kohlenhydrate? Keine Option!!
Literaturangaben
1. Ernährung & Alkohol. In: Diabetes_Schweiz, ed. https://www.diabetesschweiz.ch/ueber-diabetes/leben-mit-diabetes/ernaehrung-alkohol.html
2. Ernährung bei Diabetes. In: Deutsche_Diabetes_Hilfe, ed. https://www.diabetesde.org/habe-diabetes-essen
3. Home PD. The pharmacokinetics and pharmacodynamics of rapid-acting insulin analogues and their clinical consequences. Diabetes Obes Metab. 2012;14(9):780-788. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22321739
4. Jenkins DJ, Kendall CW, Augustin LS, et al. Glycemic index: overview of implications in health and disease. Am J Clin Nutr. 2002;76(1):266S-273S. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/12081850
5. Pfeiffer AFH, Keyhani-Nejad F. High Glycemic Index Metabolic Damage – a Pivotal Role of GIP and GLP-1. Trends Endocrinol Metab. 2018;29(5):289-299. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29602522
6. Wang Q, Xia W, Zhao Z, Zhang H. Effects comparison between low glycemic index diets and high glycemic index diets on HbA1c and fructosamine for patients with diabetes: A systematic review and meta-analysis. Prim Care Diabetes. 2015;9(5):362-369. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25524422