Sportmuffel brauchen oft etwas Selbstüberlistung und Motivation, um regelmässig Sport zu machen. Auf dem Hometrainer Netflix schauen oder Podcast hören, Yoga ab Youtubevideo, etc. Das hat bei mir bis anhin recht gut funktioniert, meist war ich wenigstens 5 Tage pro Woche auf dem Spinning-Bike, auf der Yoga-Matte oder mit dem Rennvelo unterwegs. Eine halbe Stunde, das schien mir schon recht lobenswert. Aber ich war alleine dabei, brauchte manchmal echt Überwindung und anstrengen tat ich mich auch nicht immer ganz so sehr.
Sport in der Gruppe
… Und dann fragte mich einer meiner Mitarbeiter, ob er jeweils morgens etwas später zur Arbeit kommen dürfe, er wolle jetzt seine Unsportlichkeit angehen und an Fitness-Gruppenklassen teilnehmen. Ich grinste, klar dürfe er das. Nach der ersten Woche konnte der junge Tierarzt nur noch rückwärts die Treppe runtergehen, er habe sich wohl verletzt oder massiven Muskelkater. Aber danach ging es bergauf. Offensichtlich gute Laune, direkt verbesserte Haltung und viel Motivation, mindestens 3x wöchentlich ins Fitnesscenter zu gehen.
Was er denn genau mache, fragte ich, bereits etwas neidisch. «Crossfit», war die Antwort, funktionelles Training, das in der Gruppe gemacht wird und nach meinem damaligen Wissensstand eher aussieht wie Folter, anstatt wie Sport. Irgendwie wurde ich neugierig. Wenn der das kann und auch noch Spass dabei hat…..
Nun gut, ich bin zwar läppische 25 Jahre älter, habe mit meiner immer noch etwas steifen Schulter immer noch Beschwerden und habe auch noch nie die Lust verspürt in einer Gruppe zu trainieren. Schon im Schulsport war ich immer überall die Schlechteste, diese Blösse brauche ich mir in meinem Alter nicht mehr zu geben. Ausserdem würde ich sicher keine Zeit dafür finden, regelmässig in festgelegte Klassen zu gehen. Und dann auch noch mit dem Diabetes, der Blutzucker würde auf jeden Fall komplett verrückt spielen…. Dann lieber abends alleine daheim.
Probetraining im Crossfit
Im September hatte ich mich dann doch für ein Probetraining angemeldet. Erstmals drei Lektionen alleine mit einem Coach, der einem die Übungen zeigte und den Ablauf erklärte. Es erschien mir alles recht kompliziert: ich war unbeweglich (trotz Yoga), hatte deutlich weniger Kondition als gedacht (trotz Spinning), konnte die Übungen nicht richtig koordinieren und hatte wirklich wenig Kraft. Der Blutzucker spielte natürlich verrückt, ich brauchte für jede Lektion quasi ein ganzes Pack Traubenzucker.
Schockiert war ich dann, als ich fragte, wann denn die Anfängerklassen seien. Das gäbe es nicht, es trainieren alle miteinander. Uff, diese gestählten Jungs und starken Ladies, die unten die Langhanteln stemmten? Die Liegestützen machten, Klimmzüge, Medizinbälle an Wände hochschmissen und Kettlebells schwangen? Nicht nur, dass ich das alles nicht kann, ich hatte richtig Schiss da aufzutauchen!
«Lass Dein Ego in der Umkleide, gib Dein Bestes»
Die ersten Lektionen brauchten wirklich Überwindung, die fremden Leute, die bekannte Einsicht, die Schlechteste zu sein. Halt nur die Langhantelstange anheben zu können, sogar noch ohne Gewicht. Die Liegestütze auf den Knien zu machen und beim Rudern auf der geringsten Stufe zu ziehen.
Die Trainings sind sehr streng. Jeder trainiert für sich, die Coaches geben jedem Optionen, die passen. Wer noch keine Klimmzüge schafft (also ich), hängt halt erstmals an der Stange, bis die Gelenke und Muskeln stärker werden. Ziel ist, dass man sich eine Stunde lang anstrengt, schwitzt und seinen Körper «funktionell» trainiert, eben nicht nur einzelne Muskelgruppen, sondern Abläufe, die man auch im Alltag braucht und Kraft aufbauen.
Und die Gruppe? Ich hätte wirklich keine Angst haben brauchen. Natürlich ist man erstmals etwas der Aussenseiter, aber plötzlich wird man angegrinst, man kann sich jedesmal einen weiteren Namen merken, man staunt über das, was die anderen schaffen und kriegt manchmal bereits erste kleine Komplimente, dass man auch etwas kann, was noch vor einigen Lektionen nicht ging.
Blutzuckereinstellung bei neuer Sportart
Mein Blutzucker war tatsächlich jedesmal ziemlich durcheinander. Zu hoch oder zu tief während des Trainings, zu hoch oder zu tief im Anschluss… Auch natürlich unterschiedlich, ob wir viel Konditionsübungen machten oder mehr Krafttraining. Es wurde aber Woche um Woche besser. Für mich funktioniert nun folgendes tiptop:
- Versuchen, kein aktives (Bolus-)Insulin an Bord zu haben (d.h. letztes Mahzeiteninsulin 3-4 Stunden vorher)
- Basalrate eine Stunde vorher und während des Sports auf 30% runterschrauben, oder mit den closed-loop-Pumpen in den Sportmodus schalten
- Blutzucker während Sport: 8-13 mmol/l => falls keinen Sensor, alle 20 Minuten BZ messen
- 30-40g Kohlenhydrate für eine Stunde anstrengenden Sport (1 Banane, oder 2 dicke Datteln)
- Falls BZ <8mmol/l: 3 Stück Traubenzucker (9g), erhöhen meinen BZ um 2mmol/l
- Nach dem Sport Mahlzeiteninsulin reduzieren (ca. 50%), evtl. Basalrate noch einige Stunden reduziert lassen.
Ja, das tönt etwas aufwändig, aber hey, wir sind nun mal Diabetiker*innen. Und können trotzdem fast alles auch, sogar neue Sportarten erlernen, Angst vor einer Gruppe überwinden und stärker und fitter werden. Schwer zu glauben, aber es macht mir unglaublichen Spass.
….und jetzt habe ich eben mein Abo um ein weiteres halbes Jahr verlängert und meine Stunden für nächste Woche gebucht!