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Übermässiger Perfektionismus

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Mit leichtem Erröten erklärt mir die Studentin, dass ihre einzige negative Eigenschaft «übermässiger Perfektionismus» sei. Uff, ein Killerargument, glaubt man, was soll man da als möglich zukünftiger Chef sagen? Dass man keinen Tierarzt mit perfektionistischen Zügen (als genannte «negative» Eigenschaft!) einstellen möchte? Oder lieber, dass man diese Pappenheimer mittlerweile genau kennt? Dass sich hinter dieser Aussage oft unsichere Personen verbergen oder solche mit obsessiven Tendenzen? Dass es niemandem nützt, wenn Berichte und Publikationen perfekt sind, aber dafür nicht rechtzeitig abgeliefert werden….?

Ist Perfektionismus negativ?

Perfektionismus wird als ein Persönlichkeitsstil verstanden, der durch das Setzen von (zu) hohen Leistungsstandards zusammen mit überkritischen Bewertung des eigenen Verhaltens gekennzeichnet ist.1 Ursprünglich wurden in der Wissenschaft zwei Formen des Perfektionismus unterschieden: einerseits eine positive Form, die als «normaler Perfektionismus» bezeichnet wurde und andererseits eine negative Form, der «neurotische Perfektionismus», unter dem der Betroffene leidet. Später wurde in der Forschung lange Zeit die Ansicht vertreten, Perfektionismus sei grundsätzlich negativ und schädlich. Mittlerweilen wurde diese Ansicht aber revidiert und differenziert: Es wird zwischen gesunden und ungesunden Perfektionisten unterschieden (die den Nicht-Perfektionisten gegenüberstehen) und es gibt Positives zu berichten.

Gesunde Perfektionisten

Gesunde Perfektionisten sind Personen mit hohen perfektionistischen Bestrebungen, die aber gleichzeitig wenig perfektionistische Bedenken haben. Sie zeigen ein hohes Mass an Selbstwertgefühl, Verträglichkeit und Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Meist haben sie tatsächlich höhere akademische Kompetenzen, d.h. bessere Noten, nicht nur im Vergleich mit den ungesunden, sondern auch mit den nicht-Perfektionisten. Gesunde Perfektionisten haben generell wenig Angst, sind seltener depressiv und haben wenig zwischenmenschliche, körperliche oder psychologische Probleme.

Ungesunde Perfektionisten

Dem gegenüber stehen aber die ungesunden Perfektionisten, die ein hohes Mass an perfektionistischen Bedenken aufweisen: Diese ungesunden Perfektionisten zeigen oft Zeichen von Depression, Zwangs- und Essstörungen (zusammengefasst in Stoeber & Otto, 2006).1 Sie leben häufig in Sorge um (ihre) Fehler, haben Zweifel an ihren Fähigkeiten, Gefühle der Diskrepanz zwischen tatsächlichen Leistungen und hohen Erwartungen, üben an sich ein hohes Mass an Selbstkritik und haben Angst vor dem Versagen, den eigenen Ansprüchen und Erwartungen anderer gerecht zu werden. Perfektionistische Bedenken / Sorgen stellen aber ungesunde Formen des Perfektionismus dar, da sie häufig aus extremer Selbstkritik und einem chronischen Gefühl der Unfähigkeit bestehen.2

Sind Diabetiker zu streng mit sich?

«Ich glaube, jetzt sind sie aber zu streng mit sich. Das Leben muss ja auch noch Spass machen und kann nicht nur aus Verzicht bestehen!» Hmm. Eine Aussage, die mich nachdenklich stimmt. Umso nachdenklicher, als dass sie aus dem Munde meiner Diabetologin kommt.

Bei einer Studie mit Typ 1 Diabetikern wurde festgestellt, dass hohe Werte auf einer «Perfektionismus»-Skala mit weniger Zufriedenheit, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, aber mit mehr Diabetes-Stress einhergingen.3 Es wurde zwar nicht unterschieden, aber ich gehe davon aus, dass es sich hier eher um die ungesunde Seite der Perfektionisten handelt… Das ist Schade, denn Diabetes-Stress raubt viel Energie.

Das Pareto-Prinzip oder die 80/20-Regel

Meine Arbeit hat mich aber gelehrt, dass man einen Hang zum Perfektionismus in gute Wege leiten kann, wenn man sich das Pareto-Prinzip vergegenwärtigt. Das Pareto-Prinzip erinnert uns daran, dass oft die Verbesserung weniger Faktoren den Hauptteil des Verbesserungseffektes erzielen kann. So wird dies oft in der 80-20 Regel dargestellt, die besagt, dass 80% der Ergebnisse mit 20% des Aufwandes erreicht werden! Die restlichen 20% der Ergebnisse brauchen somit den grossen, den 80% Aufwand.

Die kleine 20%-Anzahl von Faktoren, die den Hauptteil des Verbesserungseffektes erzielen, werden als die «entscheidenden» Faktoren bezeichnet. Wenn man nun zuerst diese entscheidenden Faktoren verbessern kann, lässt sich ein Problem oft bereits zu grossen Teilen in den Griff bekommen.

Welche 20% beeinflussen 80% meiner Blutzuckerwerte?

Es sind ja oft wenige Faktoren, die zum stärksten Effekt beitragen. So kann ich bei einem ausgedehnten Abendessen vieles essen, und der Blutzucker bleibt ganz gut im Griff. Wenn ich aber dazu noch (unkontrolliert) Brot knabbere, weil es halt auf dem Tisch steht, oder wenn ich zum Aperitif bereits Chips gesnackt habe (keine Ahnung wie viele, Chips isst man ja weder abgezählt noch abgewogen), ist die Chance sehr gross, dass es bei mir blutzuckermässig ziemlich aus dem Ruder läuft. Und zwar nicht nur für zwei bis drei Stunden nach dem Essen, sondern für die ganze Nacht.

Ähnlich verhält es sich mit Bewegung: auch ich habe manchmal keine Lust, abends noch eine halbe Stunde in Sport zu investieren. Aber auch hier kommt der grösste Teil des Effektes bereits von kleinen Sachen: morgens eine Bushaltestelle früher aussteigen und den Rest zu Fuss gehen, nach dem Mittagessen 10 Minuten raus durch Luft und Licht laufen, vor dem Schlafengehen eine 10-Minuten Session Bed-time-Yoga-Stretching auf YouTube…

Manchmal ist einfach «gut» gut genug

Diese Erkenntnis entspannt mich, es muss nicht immer alles perfekt sein. Manchmal ist einfach «gut» sehr viel besser als gar nichts.

“We need to see perfection in imperfection” [Wir müssen Perfektion in der Imperfektion sehen]

Slavoj Žižek

Das optimale Gleichgewicht ist oft schwierig zu finden. Unter dem Strich weiss ich aber, wieso es sich lohnt, jeden Tag den bestmöglichen Blutzucker zu haben: Laune und Energielevel sind besser, ich bin geduldiger und fair meinem Partner, meinen Freunden und Mitarbeitern, aber auch mir selbst gegenüber. … und das darf schon etwas Aufwand kosten.

Literaturangaben:
1. Stoeber J, Otto K. Positive conceptions of perfectionism: approaches, evidence, challenges. Pers Soc Psychol Rev. 2006;10(4):295-319. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17201590
2. Shafran R, Cooper Z, Fairburn CG. Clinical perfectionism: a cognitive-behavioural analysis. Behav Res Ther. 2002;40(7):773-791. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/12074372
3. Powers MA, Richter SA, Ackard DM, Craft C. Diabetes Distress Among Persons With Type 1 Diabetes. Diabetes Educ. 2017;43(1):105-113. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27932687

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